Archiv der Kategorie: Randnotizen

John Steinbeck

21.04. 2013

Am Bahnsteig HB getroffen. Über zehn Jahre nicht gesehen. Zufällig haben wir dasselbe Reiseziel und besteigen den ICE. HB ist Ärztin in Ruhestand, Kultur- und unerschütterliche Menschenfreundin. Unaufdringlich verwickelt sie sämtliche Mitreisende im Umfeld von sechs Quadratmetern in faszinierende Gespräche, lobt den Schaffner für seine schöne Sprache, lacht mit dem Kaffeekellner, verbreitet gute Laune und verteilt Visitenkarten auf deren Rückseite sie mit Kuli Lebensklugheiten schreibt. Kontakte sind ihre Spezialität. HB stellt mich wildfremden Sitznachbarn vor und empfiehlt mich Wagen Nummer 11 als Regisseur. Falls der Unternehmensberater rechts von mir mal einen brauchen sollte. Ich stecke die Visitenkarte von Eric ein, alle lachen. Keine Ahnung wie sie das macht, aber HB infiziert mindestens das halbe Abteil mit Offenheit, Freundlichkeit und Optimismus. Auf der Rückseite meiner Karte zitiert sie John Steinbeck: „Vielleicht verdirbt Geld den Charakter. Auf keinen Fall aber macht Mangel an Geld ihn besser.“ Die Frau kennt sich auch am Theater aus.

Camel

20.04. 2013

Kurzbesuch in der Heimat. Abends mit T in der Dorfbar, welche 1985 mal Café Kanapee hieß und mir das Rauchen beigebracht hat. Wie auf Bestellung (oder immer noch?) spielt der Wirt den Soundtrack der Jugend ab, der ganze Laden quarzt wie die Hölle und ich passiv wieder mit. Ausgelassene Stimmung. Fehlt nur noch dass wir Colaweizen bestellen und der ebenfalls nicht mehr taufrischen Schulkollegin am Tisch nebenan einen Baileys on the Rocks spendieren.

XXL-Griller

18.04. 2013

Der XXL-Griller hat die Flaggen gewaschen und gehisst, die frühen Schnecken vergiftet und die Heimzapfanlage aufgebaut. Auch die ersten Wühlmäuse sind schon erschossen.
Die Dotschlander brozzeln auf dem Wurstmaxxer. Tattoonya pellt mit der einen Hand Salatmix für den Salatmix aus der Tüte, an der anderen trocknet der schwarz-rot-goldne Lack. Auch die Jugend macht sich nützlich; Sündy fesselt den Pitbull an den Jägerzaun und Bratze befreit das Tier mit dem Kärcher von lästigen Winterfellresten. Die Frühblüher lugen durch den Stacheldraht und der knotige Braunwurz treibt aus. Der Oberparzellenwart schaut nach den Rechten, lässt dann den Feldstecher sinken und winkt vom Ausguck. Gleich kommen die Nachbarn aus Parzelle 1933 zum Angrillen. Der Frühling ist da.

Achthundertacht Kilometer

18.04. 2013

Morgen um 04.26 Uhr Abfahrt. Ab in den Süden. Ausgedehnte Zugreise im Ruhebereich. Mobilfunk-, Email- SMS-Pause. Offline. Schweigeseminar.
Programm:
04.26 – 06.30 Uhr Zeitung + 2 x Kaffee + Croissants.
06.30 – 11.00 Uhr Jim-Jarmusch-Arthaus-Collection Vol.1 
11.00 – 12.00 Uhr Einsame Erfrischungen im Bordrestaurant
12.00 – 13.27 Uhr Landschaftsstudien + iPod-Playlist „Glenn Gould“  + Heimatgefühle

Ottensen-Supermom (Nachbarschaft 4)

16.04. 2013

Oh Ottensen-Supermom; sei frei! Schliess dein Hollandrad auf, kupple den Kinderanhänger ab und lass deine früh ergrauten Haare von Helm und Wind verwuscheln. Spür ihn auch auf deiner kosmetikfreien Haut und durch die atmungsaktive Outdoorjacke, er weht dich geradewegs zum Biomarkt, in welchem du noch schnell deine verschrumpelten Äpfel kaufst. Er flüstert dir ins Ohr und du weißt, daß du heute und hier ganz bewusst nachhaltig wieder einmal alles richtig gemacht hast. Wer zu spät kommt, kriegt eben keine Yoga-Matte mehr und bleibt Zyniker.

Maid of Orleans

11.04. 2013

Das Radio spielt  „Maid of Orleans“ (Orchestral Manoeuvres in the Dark). Herrlich hochfloriger Synthesizerteppich. Ewig nicht gehört. Damals mit dem Kassettenrecorder aufgenommen, auf Phantasie-Englisch mitgesungen, lange Nummer Eins auf der Playlist diverser Mixtapes für diverse Angebetete. Zwanzig Jahre hat es gedauert, bis ich eben beim zuhören erstmals das Herz aus- und das Gehirn einschalte und realisiere, dass sich der Text um Jeanne d´Arc dreht. Der Titel hat zwar schon immer den entscheidenden Hinweis gegeben, aber… egal. Wahrscheinlich haben die Empfängerinnen meiner Herzschmerzkassetten alle Texte transkribiert und nächtelang gegrübelt.

Kaffee, Bier und Walfische (Nachbarschaft 3)

08.04. 2013

Ein Kaffee plus Zeitung im „Aurel“. Unsere Wege trennen sich kurzzeitig, M. mag da nicht hin; tagsüber riecht es dort dezent nach einer Mischung aus kaltem Rauch, verdunstetem Alkohol und Urinal-Duftstein. Klingt ungut, ist aber Teil einer von mir geliebten Café/Barkultur. In den hier verbrachten Morgenstunden schwingt immer noch das Gelage der vergangenen Nacht mit. Es gibt eine überregionale Zeitung, die verchromte halbautomatische Italienerin kocht hervorragenden Kaffee und der Barmann sieht nicht nur aus wie ein solcher, sondern ist es auch. Unaufgeregt schraubt er an der Italienerin, serviert vor Zwölf auch schon mal die ersten Biere und teilt meinen Musikgeschmack. Familien und deren befreundete Familien finden weder große Tische noch Frühstückskarten zum ankreuzen und meiden den Laden. Der Besitzer hat Humor und spielt auf den Toiletten Walgesänge ab. Wunderbar.

Date up, Start up, Fuck up.

04.04. 2013

“Ich schmeiß die Scheiße aus dem Fenster!” (Felicia Zeller: “Wenn ich was anderes machen würde, würde ich vielleicht nicht immer ans Geld denken”). Vier Apps wollen heute aktualisiert werden oder verweigern künftig weitere Dienstleistungen. Update or fuck up. Das iPhone, der Rechner, die Programme, das Telefon, der Router, der Drucker und, nachdem die Röhre kürzlich den Betrieb eingestellt hat, auch der Fernseher: Bis die verfluchten Geräte dank geplanter Obsoleszenz nach Ablauf der Garantie ihr Leben wieder aushauchen, verlangen sie Hinwendung und rauben Lebenszeit, Nerven und den dringend benötigten Schlaf.
Startup-Idee gefällig? iDateUp4u!

Zahnlos

03.04. 2013

Neuer Versuch mit vierzehn Stunden bedingungsloser Freundlichkeit (zu allen), um dem immer wieder aufflammenden Zynismus entgegenzutreten und dem Großstadtmisanthropen ein Frühlingsschnippchen zu schlagen. 19.00 Uhr der Tageserfolg: Buchlektüre in der U-Bahn, hinter mir anhaltend infantiles Gegiggel. Ich drehe mich lächelnd um. Ein zahnloser Einjähriger zeigt die Kauleiste und grinst zurück – ich muss wirklich lachen und lande gut gelaunt Zuhause.

Pixar

02.04. 2013

Besuch im Museum für Kunst und Gewerbe am Ostermontag: PIXAR. 25 YEARS OF ANIMATION. Interessante Ausstellung über die große Bedeutung der angewandten Künste für den Animationsfilm. Die Ausstellung zeigt Skizzen, Grafiken, Farbzeichnungen und Skulpturen aus den Filmwerkstätten der Pixar-Studios in Emeryville. Beeindruckend auch die unglaublich aufwendigen Charakter und Bewegungsstudien als Teil des Entstehungsprozesses. Das habe ich unterschätzt: Von wegen alles einfach an Computern zusammengefrickelt.