Archiv der Kategorie: Nachbarschaft

Trude´s Eissalon (Nachbarschaft 9)

19.06. 2013

Fürst Pückler forever! Schokolade, Erdbeere, Vanille. Im Becher. Mit Sahne: Bei Trude ums Eck seit 1978 die meistverkaufte Eiskreation. Exotischer Ausreißer für fernwehkranke Rentner: „Raffaello“! Und für Kinder „Schlumpfeis“ (blau). Trude´s Eissalon ist ein Deutsches Eiscafé und versprüht so viel italienisches Lebensgefühl wie das Wirtshaus im Spessart. Dafür eröffnet die Chefin die Saison todesmutig im März und serviert neben der bodenständigen Eis-Auswahl selbstgebackene Tortenklassiker. Schwarzwäldersahne, Buttercremesahne, Käsesahne. Mit Sahne. Trude selbst ist selten anwesend und überlässt den Service blutjungen, ungelernten Sexbomben aus der Nachbarschaft. Die Mädchen hantieren zwar ungeschickt mit dem Eisportionierer, schaffen aber einen optischen Ausgleich zur Laden-Deko (Laurel & Hardy aus Salzteig, Eiffelturm aus Wurst). Coppa Fantasia? Gelato Speziale? Nein: Ein Riesenspezi!

Trude

Schrulle (Nachbarschaft 8)

04.06. 2013

Knuth

Sommerfeeling, endlich. Draussen knallt die Sonne, die ausgeblichenen Ottensener kloppen sich vor dem „Knuth“ um die Sitzplätze und geben sie, einmal in Beschlag genommen erst wieder her, wenn der Nacken ver- und die Kellnerin ausgebrannt ist: 200 lm/h. Zweihundert Latte Macchiato pro Stunde müssen mindestens serviert werden! Dazu noch Schorlen, Salat und Sonderwünsche (1x Milchschaum mit blauem Schirmchen für Luca-Maurice). Ein Höllenjob. Alle Rednecks dicht gedrängt draussen. Ich: Einsam ausufernd drinnen. Bleich, aber glücklich. Das ist mein Sommerfeeling! Im stillen Dunkel sitzen und ins heiter Helle blinzeln, wunderbar! Steigerung? Bei schönstem Hochsommer drei Wochen im schummrigen Wohnzimmer hocken, Filterkaffee trinken und die Radprofis in Frankreich anfeuern. Sommerfeeling, total.

Murgut (Nachbarschaft 7)

01.06. 2013

Coffin togo. Der neue Topseller in Murguts Gemüse- und Lebensmittel-Laden am Eck! 
Vor Jahren betrieb Murgut noch eine Spezialitätentheke mit Schafskäse, Brot und Oliven. 
Heute wird diese Verkaufsfläche für ein immer breiter werdendes Angebot an Gummischuhen, Heizdecken, Radioweckern und anderen Hotdeals benötigt. Ich habe die Sortimentsumstellung nie begriffen, aber Murgut wird seine betriebswirtschaftlichen Gründe haben. An der Kasse sitzt Murguts ewig wortkarge Tochter/Nichte/Tante/Frau. Auch die Verwandtschafts- bzw. Angestelltenverhältnisse der übrigen Belegschaft bleiben Gegenstand jahrelanger Rätselspiele meiner überreizten Phantasie. Murgut selbst ist ein Phantom! Ich vermute, er schläft tagsüber im firmeneigenen Kleinlaster mit den abgedunkelten Scheiben und kommt nur nachts raus (Coffin togo). Dann macht er schräge Bestellungen und singt die traurigen Lieder seiner mir unbekannten Heimat: Die geheimnisvolle Herkunft der Crew werde ich nie erfahren, denn tagsüber herrscht im Laden das Gesetz eisernen Schweigens. Kundengespräche? Schwätzchen? Fehlanzeige. Wenige Laute und Gesten genügen und schon wechseln Münzgeld und Mischgemüse stumm ihre Besitzer. Achtung! Achtung! Das Obst in der Auslage vor dem Geschäft muss wegen bitterer Nikotinablagerungen nach dem Kauf besonders gründlich gewaschen werden, schmeckt dann aber tipitopi. Für die Ablagerungen zuständig ist eine wechselnde Schicht kettenrauchender Rentner, die (von Murgut geduldet) zwischen dem Obst an einem Stehtisch Bierchen trinken. Oder neuerdings auch mal Kaffee!

Der Magier (Nachbarschaft 6)

15.05. 2013

H. ist der Apotheker meines Vertrauens und meiner Fluchtträume in ein unaufgeregtes, durchschaubares Leben. Die Apotheke riecht nach Apotheke und H. dezent nach schlichter Handseife zu der er ein blütenweißes, hinten zuknöpfbares Apothekermäntelchen trägt. Die Zeit in seinem Laden vergeht langsam: H., im Beruf behutsam gealtert, bewegt sich im Schneckentempo synchron zum Minutenzeiger der sekundenlosen Kienzle-Automatic-Wanduhr. Man muss viel Zeit anlegen, aber die Arzneidrogen die hier gekauft werden wirken besser. Allein der Aufenthalt im Seelenknusperhäuschen wirkt antiseptisch, senkt den Blutdruck und beruhigt die Nerven. Ich bin sicher: H. stösselt die Zutaten seiner Salben und Mixturen linksdrehend in den uralten Mörsern seiner heilpflanzenkundigen Vorfahren und hört dabei Chopin Klavieretüden. Neben der mechanischen Seca-Personenwaage am Eingang lädt ein klassischer Ledersessel zu weiterem Verweil ein. Vielleicht lutsche ich noch ein Pfefferminzdrops, blättere in der Rentnerbravo und beobachte heimlich den etwas bucklig gewordenen H., wie er seine Stahlgestellbrille auf die Nasenspitze schiebt, mit Bleistift Karteikarten beschriftet und in sein Rolodex einpflegt.

Gestrandet (Nachbarschaft 5)

06.05. 2013

Hugo, Häppchen und Hipster statt Pils, Pommes und Punks: Lange hat sie sich gewehrt, nun streckt die „Strandperle“ nicht nur die kulinarischen Waffen. Szenevolk macht sich breit. Verputzt Berglinsen-Curry-Schlabber und trägt den verdammten Handtaschenköter spazieren. Unser geliebter Strandkiosk gerät immer mehr in die Hände derer, denen man dort bisher mangels kulinarischem Firlefanz und Beachclub-Bacardi-Feeling aus dem Weg gehen konnte. Bereits auf der Elbchaussee künden lange Cabriolet- und Mini-Parkschlangen vom Stelldichein der Elbvorort-Fabrikantensöhnchen. Fünf-Euro-Scheine auf dem Trinkgeldteller der Klofrau. Schicke Sonnendächer an Teakholz-Segelmasten. Demnächst noch halbstündlich Börsenkurse aus dem Lautsprecher. Nichts wie weg.

Ottensen-Supermom (Nachbarschaft 4)

16.04. 2013

Oh Ottensen-Supermom; sei frei! Schliess dein Hollandrad auf, kupple den Kinderanhänger ab und lass deine früh ergrauten Haare von Helm und Wind verwuscheln. Spür ihn auch auf deiner kosmetikfreien Haut und durch die atmungsaktive Outdoorjacke, er weht dich geradewegs zum Biomarkt, in welchem du noch schnell deine verschrumpelten Äpfel kaufst. Er flüstert dir ins Ohr und du weißt, daß du heute und hier ganz bewusst nachhaltig wieder einmal alles richtig gemacht hast. Wer zu spät kommt, kriegt eben keine Yoga-Matte mehr und bleibt Zyniker.

Kaffee, Bier und Walfische (Nachbarschaft 3)

08.04. 2013

Ein Kaffee plus Zeitung im „Aurel“. Unsere Wege trennen sich kurzzeitig, M. mag da nicht hin; tagsüber riecht es dort dezent nach einer Mischung aus kaltem Rauch, verdunstetem Alkohol und Urinal-Duftstein. Klingt ungut, ist aber Teil einer von mir geliebten Café/Barkultur. In den hier verbrachten Morgenstunden schwingt immer noch das Gelage der vergangenen Nacht mit. Es gibt eine überregionale Zeitung, die verchromte halbautomatische Italienerin kocht hervorragenden Kaffee und der Barmann sieht nicht nur aus wie ein solcher, sondern ist es auch. Unaufgeregt schraubt er an der Italienerin, serviert vor Zwölf auch schon mal die ersten Biere und teilt meinen Musikgeschmack. Familien und deren befreundete Familien finden weder große Tische noch Frühstückskarten zum ankreuzen und meiden den Laden. Der Besitzer hat Humor und spielt auf den Toiletten Walgesänge ab. Wunderbar.

Toleranz und Gemüse (Nachbarschaft 2)

24.03. 2013

Sonntag, draußen Sonne. Schnell ist klar: Man muss da raus – trotz anhaltenden Minusgraden. Die Frage ist nur wohin? In Hamburg pilgern dann zeitgleich alle anderen auch zu den bekannten Hotspots und drängen sich um die Heizpilze. Was für mich eine weitere Übung in Gelassenheit und Toleranz bedeuten könnte. Ich will heute aber nicht üben, es ist Sonntag. Dann die grandiose Idee: Hagenbecks Tierpark. Der letzte Zoobesuch ist ewig her, aber warum? Natürlich: Alle anderen, plus Merchandisinghölle. Aber immerhin keine Heizpilze – und die Aussicht, Elefanten Gemüse an die Rüssel zu reichen, ist schön.

Die Zeit, die Zeit. (Nachbarschaft 1)

22.03. 2013

Seit fünf Jahren steht der Mann an der Friedensallee. Er verändert seine Position maximal um dreihundert Meter und trägt Sommer und Winter immer die gleichen Sachen. Lösen sich die Sohlen von den Schuhen, werden sie durch ein neues, identisches Paar ersetzt. Wenn die Hose irgendwann in Fetzen von ihm abzufallen droht, findet er irgendwo deren Zwilling und stellt den optischen Originalzustand wieder her. Der rote Schal ist seit Jahren derselbe. Er trinkt nicht, bettelt nicht, spricht nicht. Er steht da einfach, schaut zu den Häusern und will sich nicht verändern. Versucht er die Zeit anzuhalten oder deren Existenz zu leugnen? Ähnliches wird in Martin Suters Roman „Die Zeit, die Zeit“ unternommen. Er wartet. Auf die Frau, die Familie, die Eltern. Damit er sie nicht verpasst, bleibt er wo er war. Damit sie ihn erkennen, bleibt er wie er war. Als wäre es erst gestern gewesen und würde am Ende wieder gut.