Archiv der Kategorie: Randnotizen

Murgut (Nachbarschaft 7)

01.06. 2013

Coffin togo. Der neue Topseller in Murguts Gemüse- und Lebensmittel-Laden am Eck! 
Vor Jahren betrieb Murgut noch eine Spezialitätentheke mit Schafskäse, Brot und Oliven. 
Heute wird diese Verkaufsfläche für ein immer breiter werdendes Angebot an Gummischuhen, Heizdecken, Radioweckern und anderen Hotdeals benötigt. Ich habe die Sortimentsumstellung nie begriffen, aber Murgut wird seine betriebswirtschaftlichen Gründe haben. An der Kasse sitzt Murguts ewig wortkarge Tochter/Nichte/Tante/Frau. Auch die Verwandtschafts- bzw. Angestelltenverhältnisse der übrigen Belegschaft bleiben Gegenstand jahrelanger Rätselspiele meiner überreizten Phantasie. Murgut selbst ist ein Phantom! Ich vermute, er schläft tagsüber im firmeneigenen Kleinlaster mit den abgedunkelten Scheiben und kommt nur nachts raus (Coffin togo). Dann macht er schräge Bestellungen und singt die traurigen Lieder seiner mir unbekannten Heimat: Die geheimnisvolle Herkunft der Crew werde ich nie erfahren, denn tagsüber herrscht im Laden das Gesetz eisernen Schweigens. Kundengespräche? Schwätzchen? Fehlanzeige. Wenige Laute und Gesten genügen und schon wechseln Münzgeld und Mischgemüse stumm ihre Besitzer. Achtung! Achtung! Das Obst in der Auslage vor dem Geschäft muss wegen bitterer Nikotinablagerungen nach dem Kauf besonders gründlich gewaschen werden, schmeckt dann aber tipitopi. Für die Ablagerungen zuständig ist eine wechselnde Schicht kettenrauchender Rentner, die (von Murgut geduldet) zwischen dem Obst an einem Stehtisch Bierchen trinken. Oder neuerdings auch mal Kaffee!

l/m2

24.05. 2013

Die Regenpause ausgenutzt und die Pfützen durchschwommen. Allgemeines Dauer- und Stimmungstief, Niederschlag und Niedergeschlagenheit. Die langen Sommer der Kindheit? Vielleicht kommen sie zu uns zurück, wenn wir alle wieder kurze Lederhosen tragen. Und Sandalen mit Klettverschluss, die Pfotenabdrücke in Staub und Sand hinterlassen!

Falling Down

22.05. 2013

psst!

05.26 Uhr, S1. Ab Reeperbahn steigt Kiezfeierlandjugend zu. Ein blasses Mädchen übergibt ihren Wurstsalat vom Vorabend dem Aschenbecher, spült mit Wodka nach und würgt erneut. Mein leerer Magen zuckt. (Ich reiße dem Girlie die Flasche aus den Nagelstudiokrallen und nehme einen kräftigen Schluck.)

06.05 Uhr, ICE (1). Reservierung im Psst Ruhebereich. Heute ausnahmsweise keine Handyneurotiker, dafür ein lautstarkes Businessmeeting. Chef, Sekretärin und ein Abteilungsleiter erarbeiten Gasrücknahmestrategien. Bald sind auch andere Fahrgäste auf hundertachtzig: (Wir rollen unsere Zeitungen zu Knüppeln und prügeln die Nervensägen aus dem Abteil.)

11.49 Uhr. Ohne Ticket am Bummelbahnhof des Todes. Tumbling Tumbleweed, nur ein (1!) Fahrkartenautomat, davor eine Viermeterschlange Begriffsstutziger. Heute werden hier anscheinend unfassbar komplizierte Fernreisen gebucht oder Auskünfte für einen Ponyausritt mit barrierefreiem Umsteigen in Künaz an der Knatter erbeten. (Ich verpasse meinen Zug und zünde rachsüchtig in der Unterführung einen Papierkorb an.)

12.05 Uhr. Achtung, eine wichtige Durchsage für Reisende nach Krrrzzz. Der ICE von Krrrzzz nach Krrrzzz fährt heute um Krrrzzz in umgekehrter Wagenreihung von Bahnsteig Krrrzzz.

16.52 Uhr. ICE (2). Wegen Krrrzzz keine Reservierung im Psst Ruhebereich möglich. Die Reservierungsanzeige ist ohnehin ausgefallen, die Mitgeplagten und ich spielen die ersten 20 Minuten Reise nach Jerusalem. Der fozziebärstimmige Zugchef knödelt eine Entschuldigung, wiederholt auf Stolperenglisch und offeriert dann gutgelaunt thermosbitteren Herzklappenmokka und zwiebellastige  Mettstullen. (Ich folge dem Ruf ins Bordbistro, verlange aber von Fozziebär das angebotene Gedeck persönlich vorzukosten und weide mich an seinem Sodbrennen.)

18.38 Uhr. ICE (3). 45 Minuten Verspätung. Mein reservierter Psst Ruhebereich befindet sich in einem liegen gebliebenen Zugteil und ich klemme mich im überfüllten Restzug vor der defekten Bordtoilette auf das Teppichfleckenrätsel. Gereizte Stimmung, der zusammengepferchte Mob spitzt die Mistgabeln und entzündet Fackeln. Das Zugpersonal hat sich im Dienstraum eingeschlossen, verzichtet hasenfüssig auf die Fahrkartenkontrolle (und ich upgrade kostenlos in die erste Klasse, schlitze mit meiner Machete einen Sitz auf und trinke den restlichen Wodka.)

20.36 Uhr. ICE (4). Bingo! Der erste Klimaanlagenausfall der neuen Saison löst pünktlich die vereisten Oberleitungen und zugefrorenen Türen ab. Reservierung im Psst Ruhebereich. Hier dann endlich die Handyneurotiker, Fußballirren und Prosecco-Lerchen. Eine Frau spielt Fruit-Ninja ohne Kopfhörer, Oma liest laut vor, Tastaturanschlagstrommelfeuer, SMS-Terror, Klingelton-Elend. (Ich nehme den Schaffner in Geiselhaft, erzwinge eine Notbremsung auf freier Strecke und verlange einen klimatisierten, vollgetankten Hubschrauber.)

Der Magier (Nachbarschaft 6)

15.05. 2013

H. ist der Apotheker meines Vertrauens und meiner Fluchtträume in ein unaufgeregtes, durchschaubares Leben. Die Apotheke riecht nach Apotheke und H. dezent nach schlichter Handseife zu der er ein blütenweißes, hinten zuknöpfbares Apothekermäntelchen trägt. Die Zeit in seinem Laden vergeht langsam: H., im Beruf behutsam gealtert, bewegt sich im Schneckentempo synchron zum Minutenzeiger der sekundenlosen Kienzle-Automatic-Wanduhr. Man muss viel Zeit anlegen, aber die Arzneidrogen die hier gekauft werden wirken besser. Allein der Aufenthalt im Seelenknusperhäuschen wirkt antiseptisch, senkt den Blutdruck und beruhigt die Nerven. Ich bin sicher: H. stösselt die Zutaten seiner Salben und Mixturen linksdrehend in den uralten Mörsern seiner heilpflanzenkundigen Vorfahren und hört dabei Chopin Klavieretüden. Neben der mechanischen Seca-Personenwaage am Eingang lädt ein klassischer Ledersessel zu weiterem Verweil ein. Vielleicht lutsche ich noch ein Pfefferminzdrops, blättere in der Rentnerbravo und beobachte heimlich den etwas bucklig gewordenen H., wie er seine Stahlgestellbrille auf die Nasenspitze schiebt, mit Bleistift Karteikarten beschriftet und in sein Rolodex einpflegt.

Seniorenhiking

13.05. 2013

Textile Revolution! Die Generation 70+ hat sich das Rentnerbeige vom Leib gerissen, die Jack-Wolfskin-Läden entdeckt und streift neuerdings in farbenfrischer Uniform neongrün, gallengelb und sittichblau durch die Heide.
Dank der schmerzbunten, atmungsaktiven, multifunktionalen Outdoor-Pelle sind jetzt auch die sengenden Wüsten Helgolands und die eisigen Höhen Lüneburgs bezwingbar geworden. Rein in die farbenfrohe Wolfshaut! Raus ins wilde Gartencafé!

4. Kapitel, Seite 1.752

08.05. 2013

Stecker raus. Strom und Nerven sparen: Kein Computer, kein Fernsehen, kein Telefon, keine Zeitung, keine Nachrichten. Vielleicht rotzfrech die Klingel abstellen und sich digital tot stellen. Schweigegelübde light. Mal sehen, was kommt. Vielleicht lässt der elende Smartphone-Kontrollzwang nach. Vielleicht erzählen die Romanautoren zur Belohnung dann endlich wieder ein paar längere Geschichten.

Gestrandet (Nachbarschaft 5)

06.05. 2013

Hugo, Häppchen und Hipster statt Pils, Pommes und Punks: Lange hat sie sich gewehrt, nun streckt die „Strandperle“ nicht nur die kulinarischen Waffen. Szenevolk macht sich breit. Verputzt Berglinsen-Curry-Schlabber und trägt den verdammten Handtaschenköter spazieren. Unser geliebter Strandkiosk gerät immer mehr in die Hände derer, denen man dort bisher mangels kulinarischem Firlefanz und Beachclub-Bacardi-Feeling aus dem Weg gehen konnte. Bereits auf der Elbchaussee künden lange Cabriolet- und Mini-Parkschlangen vom Stelldichein der Elbvorort-Fabrikantensöhnchen. Fünf-Euro-Scheine auf dem Trinkgeldteller der Klofrau. Schicke Sonnendächer an Teakholz-Segelmasten. Demnächst noch halbstündlich Börsenkurse aus dem Lautsprecher. Nichts wie weg.

Albert Bouley

26.04. 2013

Albert Bouley, Koch des Jahres 1990 bei Gault-Millau, ist gestorben. In den späten 80ern habe ich eine Kochlehre bei ihm absolviert. Mit Köchen ist es wie mit Chirurgen oder Theatergypsies; man muss dafür gemacht sein. Nach vier Jahren habe ich gemerkt: Ich bin kein Koch. Dennoch habe ich viel von meinem Maitre gelernt. Auch das Köche nicht unbedingt übergewichtige Handwerker sein müssen. Gute Köche sind nicht dick. Albert trug unter seiner seidenen Kochjacke Hemd und Krawatte und war auch sonst ein Ästhet. Chardonnay statt Bier, leise Stimme statt Gebrüll. Mein Patron war sensibel, ein Kochkünstler. In anderen Küchen fliegen die Pfannen und der Stift wird bei Bedarf noch geohrfeigt. Die fröhlichen Fernsehköche vermitteln gelegentlich ein leicht verzerrtes Bild dieser Berufsgruppe. In Monsieur Bouleys Restaurantküche herrschte bei allem Stress und knüppelharter Arbeit ein guter, kreativer Geist. Wir haben viel mit ihm gelacht, aber am meisten mochte ich seinen nachdenklichen, melancholischen Zug. Adieu, Albert.

Albert

Gunny

25.04. 2013

10.35 Uhr, Altonaer Bahnhof. Eine Gruppe Kindergartenkinder marschiert im Gleichschritt durch die Unterführung. Ein fünfjähriger Drill Sergeant ruft: „Wer hat die besten Preise?“ Der Rest der Windel-Marines im Chor: „Mediamarkt! Mediamarkt!“. Die Erzieherin im letzten Glied klatscht im Rhythmus und singt mit. Ein Wahnsinn.

Rainman

23.04. 2013

Zurück aus dem Süden, die Regenwolken mitgenommen. Niederschlagsverfolgt. Gegen Medizin gebe ich das unselige Talent gerne an einen staubgeplagten Sioux-Stamm ab.