Archiv der Kategorie: Randnotizen

Infantilia.

05.10. 2013

Religion

Losing my Religion. Wenn die Götter schweigen, die Kirchentüren verschlossen und die Gurus abgereist sind, wenn die Wahrsagerin lügt und nicht einmal die Bäume mehr zu uns sprechen, wenn wirklich gar nichts mehr geht, dann ist da immer noch der Juwelier in der Fußgängerzone.

iOS 7.

24.09. 2013

Apple

Komme mit aktueller Software nicht zurecht und habe einen Termin im Beichtstuhl. Um 09.45 Uhr stelle ich mich in die Schlange der Gläubigen. Der Gottesdienst beginnt um Zehn, hinter der Scheibe bereiten junge Priester in blauen Poloshirts die Messe vor. Vor der Kathedrale zu Hamburg stehen in vorderster Reihe zwei demütige Dienerinnen aus Pinneberg, die sich vor drei Tagen barfuß auf den Weg gemacht haben und nun seit 07.30 Uhr (!) mit blutenden Zehen darauf warten, in die heilige Halle eingelassen zu werden. Um 09.50 Uhr steckt ein Messdiener den Kopf aus der Tür und verkündet dem dürstenden Volk, dass das neue iPhone ausverkauft sei und erst im Laufe der Woche nachgeliefert würde. Die Wallfahrerinnen aus Pinneberg brechen in Tränen aus. Wolken spiegeln sich im Mittelschiff, der Himmel bricht auf. Dieses Licht. Und über allem schwebt Stefan aus Kalifornien.

Needful Things (Nachbarschaft 14)

19.09. 2013

Chichi

Auf der Suche nach einer simplen, gagfreien, unoriginellen Geburtstagspostkarte erfolglos die Ottenser Hauptstraße abgeklappert, dafür aber wieder mindestens sieben neue Geschäfte mit Deko-Vintage-Chichi für Verwöhnte und Verwirrte entdeckt. Während draußen die böse Globalisierung steppt, macht sich in den luxussanierten 6-Zimmer-Altbauwohnungen des Viertels neuer Biedermeier breit und Supermom bereitet (zwischen Halbtagsjob im eigenen Marmeladenladenlädchen, Biomarkteinkäufen und Helikopterflügen vom Klavierunterricht zur Finnisch-Nachhilfe) ihrem burnoutbedrohten Geldhamstermann und den ritalinabhängigen Königskindern daheim ein behagliches Stübchen.

Ach so. Aha. Mhm.

16.09. 2013

In Restaurants, Zugabteilen, Saunen und Aussegnungshallen senke ich im Gespräch mit Begleitern automatisch die Stimme. Wenn andere Hummersuppen löffeln, Zeitung lesen, transpirieren oder Tote betrauern passe ich mich der Situation an und spreche leiser. Ob das Instinkt, Erziehung oder die gesunden Ohren sind weiß ich nicht. Was ich weiß ist, dass Klaus vom Glutamat beim Chinesen noch immer der Hintern juckt und er sich deswegen heute für das Steakhaus entschieden hat. Kati beichtet Tine, mir und Wagen 276 zwischen Altona und Hauptbahnhof eine Geschlechtskrankheit und Frank kann Sauna eigentlich nicht ab, weil er sich vor nackten Dicken ekelt. Da geht es ihm ähnlich wie Thomas in der Kondolenzreihe vor mir, der mal einen adipösen Hamster hatte welcher dann auch so schlimm an Zucker gestorben ist.

Gummiert, broschiert, gefalzt, gewalkt.

12.09. 2013

Besuch im „Manufactum“ Ladengeschäft: Meine geliebte Kuckucksuhr ruft mich nicht mehr und muss nun per Postkutsche (Achsen aus Schwarzbirkenholz, gefedert mit bulgarischem Chromnickelstahl) zur Reparatur in die schwieligen, aber feinnervigen Hände eines Schwarzwälder Uhrmachermeisters in siebter Generation versandt werden. Das Männlein saugt, während es im Schein der seit den 1930er Jahren in unveränderter Machart hergestellten Scherenwandlampe Unruhen auswuchtet und winzige Zahnräder ölt, an Keagans Original Shell Briar Meerschaumpfeife aus irischer Produktion und brummt wohlig in seinen Bart, denn um Drei serviert seine katholische Frau zum Royal Dinner Kaffee (mit Sachverstand in der Familienrösterei van Gülpen geröstet) gedeckten Apfelkuchen auf Gretschs Kuchenplatte in klassischer Grundform und hervorragender Qualität bei maximaler Robustheit. Es wird nicht lange dauern bis meine Uhr, verpackt in einer geprägten, dunkelgrauen Elba-Hartpappeschachtel, deren Deckel mit Gutenbergs bewährtem Gummierstift aus echtem Gummiarabicum verklebt wurde, zu mir zurückkommt.

Lustig ist, dass die Kunden im Laden zur Ware passen wie der handgemachte Deckel auf den Emailletopf aus Niederösterreich: Die Herren tragen Cordanzüge, Hornbrillen und Loafer aus Pferdeleder und besprechen sich, einen Hauch von Harris „Old Lavender Water“ hinter sich herziehend, sonor gestimmt mit ihren naturgebeizten Frauen in Saint Alberts Herbstwoll-Ponchos aus mongolischer Lammschur.

Nur mit dem Reparaturauftrag in der Hand komme aber auch ich nicht aus der Zeitmaschine: Bronnleys Zitronenseife –  seit Anfang des letzten Jahrhunderts ein Klassiker in der Form wie in der Griffigkeit beim Waschen – enthält einen Anteil echten sizilianischen Zitronenöls und verströmt einen kräftigen, sauberen Zitrusduft. H. Bronnley & Co. Ltd. ist demütiger Besitzer der königlichen Lieferpatente, die von der Königin, der Königin-Mutter und dem Prinzen von Wales verliehen wurden.

Schööön!

11.09. 2013

Zirkus

Pardauz! Der Zirkus ist in der Stadt! Meine Leidenschaft dafür wurde allerdings erst spät geweckt. Die ersten Zirkusbesuche des jährlich gastierenden Dorfzirkus waren geprägt von kindlichen Tränen des Mitleids mit räudigen Hunden, darmkranken Kamelen und alkoholsüchtigen Clowns in der Manege – und abgemagerten, melancholischen Ponys in der Fußgängerzone („Bitte eine Winterlagerspende für uns und unsere hungrigen Freunde“). Ich erinnere mich noch ganz genau an die Nummer einer etwa 11-jährigen Artistin; das Zirkuskind im Glitzertutu versuchte in endlosen Versuchsreihen, eine Vase auf der Stirn zu balancieren. Erfolglos. Weinend brach sie irgendwann ab und musste zur Strafe bestimmt hungrig (im Stall der kranken Kamele) zu Bett. Schrecklich!

Den Zauber eines großen Zirkus habe ich erst Jahre später bei „Krone“ in München erlebt: Markerschütterndes Löwengebrüll einer wilden Bestie im Off – Dann der Auftritt eines quirligen Schoßhündchens – im Löwenkostüm! Gebändigt von einem sagenhaften Clown. Noch besser war nur der wunderbare Oleg Popov, den ich im russischen Staatszirkus gesehen habe und nie vergessen werde. Jetzt also der Zirkus Werona. In Othmarschen. Auf dem Festplatz Holmbrook. Soll ich Karten kaufen?

brutzel, schmirgel, brat.

10.09. 2013

Deluxe-Einladung! Essen bei M., der ein ausgezeichneter Hobbykoch geworden ist: Es macht nicht nur Spaß, ihm beim jonglieren mit den Pfannen zuzusehen – auch das Menü ist superb! Ich habe nichts gegen freizeitköcheln und schon gar nichts gegen Einladungen von talentierten Hobbyköchen. Was mich nervt, ist die TV-Dauerpräsenz von Profi-, Laien-, Knast- und Promi-Köchen und das ganze Bratenraten, Soßenduellieren und Puffkantinentesten auf allen Kanälen. Und überhaupt: Die ziegenbärtigen Piercingpunk-Küchenchefs in schwarzen Kochjacken und Piratenkopftüchern, welche die Formate moderieren, stehen in echten Küchen höchstens als Chef de Casserolier in der dunklen Spülküche – und nicht neben Heiner Lauterbach, der gerade mit dem Mini-Flammenwerfer (hippstes Fernsehkoch-Zubehör) Ameisenzungen auf Erbsen karamelisiert. Es ist toll, dass Lebensmittel, deren Aufzucht, Auswahl und Zubereitung eine Aufwertung erfahren haben. Es gibt klasse Kochbücher, Kochblogs und Rezept-Apps. In der Glotze wünsche ich mir allerdings „Ich habe da schon mal was vorbereitet“ Max Inzinger zurück. Aber nur einmal die Woche, für 20 Minuten. Im Dritten.

Herbst.

09.09. 2013

Hokkaido im Einkaufswagen, Gummistiefel-Anprobe im Schuhgeschäft, betrunkene Wespen feiern Orgien auf Pflaumenkuchen. Die kettenrauchende Nachbarschaft macht die Balkon-Aschenbecher winterfest und mummt sich beim inhalieren der Lungenbrötchen schon in Wolldecken. Kinder im Hof hantieren mit Prittstift, Kastanien und Blättern. Das Eichhörnchen schiebt Sonderschichten.

Öffentlichbrechich.

06.09. 2013

Zapp! Zisch! Sackzement! Gestern mit Bier vor der Glotze. ZDF-Eigentorproduktion mit den üblichen Verdächtigen, ein Kicherkomödchen für Grenzdebile: „Bella Dilemma“. Furchtbar. Schon der Titel! Wer denkt sich so was aus? Wer schreibt diese Geschichten? Als ob nicht allein die restliche Programmgestaltung (Fernsehkoch-Comedy, Streichelzoo-Dokusoap, Volksmusik-Folterkeller) schon mies genug wäre. Und dann noch mit der dauerpräsenten, sommer-sprossigen Allzweckwaffe Sawatzki in der Hauptrolle, die sich immer mehr in ein… (ja in was? Busenwunder?) verwandelt. Schnell umschalten. Zapp! Zisch! Sackzement! Bier! Die ARD bringt zeitgleich ein neues Format: Das pfiffige Physik-Erklärbärchen Ranga Yogeshwar moderiert, gemeinsam mit Babsi Schöneberger (schon wieder Busen) „Die große Ernährungsshow“. Wie können aus Küchenabfällen und verstorbenen Haustieren schmackhafte Aufläufe gezaubert werden? Antworten darauf, sowie wertvolle Tipps (alte Kaugummis eine Woche in Zucker eingelegt schmecken wir neu) gibt es jetzt im Ersten.

Richelieu im Kühlregal.

03.09. 2013

Zurück in Deutschland. Zunge und Gaumen sind erschüttert und gewöhnen sich erst allmählich wieder an die vergleichsweise faden Frischprodukte von Edeplus, Aldika und Lidlrew. Es liegt nicht allein am Urlaubsfeeling und an der hübschen Kassiererin; das Zeug aus dem französischen Supermarkt schmeckt definitiv besser. Gemüse, Obst, Käse, Fleisch: Den schmackhaften Stoff, den sich auf dem Ottensener Wochenmarkt nur Werber und Edelnutten leisten können, gibt es dort fürs gemeine Volk. Bezahlbar. In jedem Carrefour.